Allerhühnchen (Alräunchen)


Eine Sage aus Großbeeren im Landkreis Teltow-Fläming

Ein Besuch der Schinkelkirche in Großbeeren animierte Theodor Fontane dazu, dem Geist von Beeren und einer alten Familiensage ein ganzes Kapitel in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" zu widmen. Lest die Sage und erfahrt, was es mit dem Geist und dem Allerhühnchen auf sich hat.

Die Sage

Aus: Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Teil 4 Spreeland, Kapitel: Geist von Beeren
*Die ursprüngliche Schreibweise und Rechtschreibung wurden beibehalten.
Vor mehreren hundert Jahren war eine Frau von Beeren eines Kindleins glücklich genesen. In einem großen Himmelbett, dessen Gardinen halb geöffnet waren, lag die junge Frau, neben sich die Wiege mit dem Kind, und verfolgte in träumerischem Spiel die Schatten, die in dem spärlich erleuchteten Zimmer an Wand und Decke auf und ab tanzten.

Plötzlich bemerkte sie, daß es unter dem Kachelofen, der auf vier schweren Holzfüßen stand, hell wurde, und als sie sich aufrichtete, sah sie deutlich, daß ein Teil der Diele wie eine kleine Kellertür aufgehoben war. Aus der Öffnung stiegen alsbald allerhand zwergenhafte Gestalten, von denen die vordersten kleine Lichtchen trugen, während andere die Honneurs machten und die nach ihnen Kommenden willkommen hießen. Alle waren geputzt. Ehe sich die Wöchnerin von ihrem Staunen erholen konnte, ordneten sich die Kleinen zu einem Zuge und marschierten zu zwei und zwei vor das Bett der jungen Frau.

Die zwei vordersten baten um die Erlaubnis, ein Familienfest feiern zu dürfen, zu dem sie sich unter dem Ofen versammelt hätten. Frau von Beeren war eine liebenswürdige Natur, ihr guter Humor gewann die Oberhand, und sie nickte bejahend mit dem Kopf. Alsbald kehrten die Kleinen unter den Ofen zurück und begannen ihr Fest. Aus der Kelleröffnung wurden Tischchen heraufgebracht, andere deckten weiße Tücher darüber, Lichterchen wurden aufgestellt, und ehe viele Minuten um waren, saßen die Kleinen an ihren Tischen und ließen sich's schmecken.

Frau von Beeren konnte die Züge der einzelnen nicht unterscheiden, aber sie sah die lebhaften Bewegungen und erkannte deutlich, daß alle sehr heiter waren. Nach dem Essen wurde getanzt. Eine leise Musik, wie wenn Violinen im Traum gespielt würden, klang durch das ganze Zimmer.

Als der Tanz vorüber war, ordneten sich alle wieder zu einem Zuge und erschienen abermals vor dem Bett der Wöchnerin und dankten für freundliche Aufnahme. Zugleich legten sie ein Angebinde nieder und baten die Mutter, des Geschenkes wohl achtzuhaben: die Familie werde blühen, solange man das Geschenk in Ehren halte, werd aber vergehen und verderben, sobald man es mißachte. Dann kehrten sie unter den Ofen zurück, die Lichterchen erloschen, und alles war wieder dunkel und still.

Als Frau von Beeren, unsicher, ob sie gewacht oder geträumt habe, nach dem Angebinde sich umsah, lag es in aller Wirklichkeit auf der Wiege des Kindes. Es war eine kleine Bernsteinpuppe mit menschenähnlichem Kopf, etwa zwei Zoll lang und der untere Teil in einen Fischschwanz auslaufend.

Dieses Püppchen, das Leute, die zu Anfang dieses Jahrhunderts lebten, noch gesehen haben wollen, führte den Namen »Allerhühnchen« (Alräunchen) und galt als Talisman der Familie. Es vererbte sich von Vater auf Sohn und wurde ängstlich bewahrt und gehütet.

Geist von Beeren indessen kümmerte sich wenig um das wunderliche Familienerbstück; war er doch kein Freund von Sagen und Geschichten, von Tand und Märchenschnack, und was seiner Seele so ziemlich am meisten fehlte, war Pietät und der Sinn für das Geheimnisvolle.

Allerhühnchen hatte lang im Schrank gelegen, ohne daß seiner erwähnt worden wäre. Da führte das Weihnachtsfest eine lustige Gesellschaft bei Geist von Beeren zusammen, und der Zufall wollte, daß einer der Gäste vom »Allerhühnchen« sprach.

»Was ist es damit?« hieß es von allen Seiten, und kaum daß die Frage gestellt worden war, so wurd auch schon die Geschichte zum besten gegeben und das Allerhühnchen herbeigeholt. Geist von Beeren ließ es rundum gehen, witzelte und spöttelte und – warf es dann ins Feuer.

Von dem Augenblick an brach das Unheil herein, und jene Schläge kamen, deren ich teilweis schon erwähnte. Zweimal brach Feuer aus, Krieg und Mißwachs zerstörten die Ernten, und rasche Todesfälle rafften die Glieder der Familie fort. Der General starb plötzlich, bald darauf die beiden Söhne desselben, endlich Geist von Beeren selbst.

Die junge Witwe, welche Geist hinterließ, verlobte sich zwei Jahre später mit dem Hauptmann Willmer, einem liebenswürdigen Mann, und die Hochzeit stand nahe bevor. Da geriet Willmer in Streit mit einem Kameraden, einem Herrn von Dolfs von den Gardekürassieren, und in der Heide von Wulkow kam es zum Duell. Willmer ward erschossen.

Sein Grab befindet sich auf dem Kirchhofe von Großbeeren. Neben ihm ruht die Tochter des »tollen Geist«, die ebenfalls auf rätselhafte Weise starb. Sie war in Berlin im Pensionat und fuhr nach Großbeeren hinaus, um ihre Mutter zu besuchen. Als der Wagen vor dem Hause hielt, schien das Fräulein fest und ruhig zu schlafen – sie war tot.

Frau von Geist verkaufte schließlich die Besitzung, aber der Unsegen dauerte fort. Nichts gedieh, nichts wollte vorwärts. Der nächste Besitzer verlor sein Vermögen, der ihm folgende führte ein wüstes, unstetes Leben und verscholl, der dritte hielt sich, aber Streit und Hader verbitterten ihm die Tage.

Der Geist von Beeren

Der Familie von Beeren gehörten seit dem 14. Jahrhundert Güter in Großbeeren und Kleinbeeren. Warum sich der letzte Gutsherr aus dem Geschlecht der von Beeren, Geist von Beeren nannte, hängt mit einem Gesuch an den preußischen König im Jahr 1875 oder 1876 zusammen.

Schinkelkirche in Großbeeren

Die Schinkelkirche in Großbeeren

Der Herr von Groß- und Kleinbeeren, Hans Heinrich Arnold von Beeren, beantragte den Freiherrenstatus mit dem Namen Geist von Beeren. Dem wurde stattgegeben und künftig machte der Geist von Beeren oder Beeren-Geist durch allerlei Streitigkeiten und Albernheiten, aber auch durch Sarkasmus und Witz auf sich aufmerksam.

Geist von Beeren heiratete erst im höheren Alter und wurde Vater einer Tochter. Er verschied am 15. Dezember 1812 in seiner Berliner Wohnung. Wo er begraben wurde, habe ich bisher nicht herausfinden können. Die einstige Dorfkirche in Großbeeren war 1760 abgebrannt. Die Evangelische Schinkelkirche wurde zwischen 1818 bis 1820 an ihrem ehemaligen Standort erbaut. Auf dem historischen Kirchhof, auf dem sich sein Grab der Sage nach befinden soll, gibt es einige Grabsteine, deren Inschriften jedoch kaum zu entziffern sind.

Grabstein

Grabstein auf dem historischen Kirchhof von Großbeeren

Die Tochter des Beeren-Geist verstarb in der Tat früh, und zwar im Jahr 1823. Die Witwe des Geist von Beeren verkaufte das Großbeerener Gut nach dem Tod der Tochter 1824 an einen Leutnant Mumme, der ein Onkel von Theodor Fontane war. Sie heiratete tatsächlich wieder, wie es in der Sage heißt, aber keinen Herrn Willmer, sondern den Königlich-Preußischen Major Ludwig Christian Friedrich von Ciriacy. Aus dieser Ehe stammten drei Kinder. Ciriacy starb im August 1829 an der Schwindsucht.

Der Alraunen-Aberglaube

Der wunderlichen Geschichte vom Allerhühnchen liegt vermutlich der Aberglaube von der Alraune zugrunde. Der Alraunenwurzel wurde in früheren Zeiten Zauberkraft zugeschrieben. Sie sollte ihrem Besitzer Glück und Reichtum bringen, konnte aber bei falscher Behandlung auch für viel Unheil sorgen.

Die Alraunen, auch als Mandragora bekannt, sind Nachtschattengewächse, die in Europa vorkommen. Ihre Wurzel soll der menschlichen Gestalt ähneln. Ihr Name beruht nach Meinung des Sprachwissenschaftlers Jacob Grimm auf der Seherin Albruna aus der altgermanischen Sage. Im Volksmund wurde die Alraune unter anderem auch Alräunchen, Alruneken oder Alraun genannt.

Um die Alraune ranken sich verschiedene Sagen und Legenden. Sie wurde überdies zum Thema von Romanen und Filmen.


Quellen:

* Mythen, Monster und Maschinen - Der künstliche Mensch im Film, Heike Jestram, Kindle Ausgabe 2011
* Neues allgemeines Deutsches Adels-Lexicon, Ernst Heinrich Kneschke, Verlag Friedrich Voigt, Leipzig 1861
* Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Theodor Fontane, Teil 4 Spreeland, Kapitel: Geist von Beeren



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